Warum schreien wir hilflose Menschen an? Was hilft? Grundprinzip und Beispiel
Kürzlich erzählte mir ein Klient (nennen wir ihn hier Tom) beschämt, dass wenn seine Tochter weint und sich hilflos fühlt, er gestresst darauf reagieren würde und sie sogar anschreien würde.
Tom war glasklar, dass er sich so nicht verhalten wollte. Trotzdem rutschte er immer wieder in dieses Verhalten hinein.
Warum verhalten wir uns -rückblickend- manchmal eindeutig falsch?
Und wie kann man so etwas ändern?
1. Kommen wir zuerst zum Grund
Wenn wir uns anders verhalten, als wir wollen würden (und grundsätzlich die Fähigkeit dazu hätten), bedeutet das, dass unser Hauptbewusstsein nicht mehr die Kontrolle hat.
Wer entscheidet denn dann zu schreien, wenn es nicht unser Hauptbewusstsein ist?
Schauen wir uns das an Toms konkretem Beispiel an. (Bei dir kann die Dynamik gleich, ähnlich oder anders aufgebaut sein. An Toms Beispiel kannst du dir anschauen, wie so eine Dynamik grundsätzlich im System sinnvoll sein kann, auch wenn sie auf den ersten Blick nur irrational und destruktiv wirkt.)
Wenn Hilflosigkeit und Trauer zu so einer starken Stressreaktion führen, lerne ich als Coach über meinen Klienten, dass sich diese Emotionen sehr bedrohlich für ihn anfühlen.
Wie kann das sein?
Üblicherweise war das so:
Wir waren Kinder und erlebten Trauer und Hilflosigkeit. Wenn es gut gelaufen wäre, wäre ein Erwachsener da gewesen und hätte uns getröstet. Wir hätten dann lernen können, dass wir uns auch sicher und aufgehoben fühlen können, wenn wir mal Traurigkeit oder Hilflosigkeit erleben. Viele von uns haben das aber nicht gehabt. Statt zu erleben, dass verschiedene Emotionen in Ordnung und Teil des Lebens sind, wurden wir ausgeschimpft, ignoriert, verurteilt, allein gelassen, beschämt oder hatten einfach einen Erwachsenen vor uns, der zwar physisch anwendend war, aber selber in seine Hilflosigkeit fiel (was auch eine Form von allein lassen ist), …
Im Falle von Tom reagierte sein Vater damals mit Wut. Sein Vater hasste es, wenn er sich als Junge traurig oder hilflos zeigte.
Der kleine Tom lernte also, dass Trauer und Hilflosigkeit bekämpft wird.
Und so wurde der Hilflosigkeit und Trauer zusätzlich die Angst vor Kontaktverlustes hinzugefügt. Ohne dass es meinem Klienten bewusst war, lernte er:
Hilflosigkeit und Trauer sind verboten, denn wenn ich sie zulasse, verliere ich den Kontakt zu meiner engen Bindungsperson.
Um damit klar zu kommen, dass er nunmal von seinem Vater abhängig war, musste er Trauer und Hilflosigkeit von sich wegschieben. Er spaltete das Bewusstsein des traurigen und hilflosen kleinen Jungen Tom von seinem Hauptbewusstsein ab und schickte es in sein Unterbewusstsein. Und er installierte einen kleinen Retter. Der Retter-Tom ist stark und hat nur „starke“ Gefühle – so wie Papa. Und der Retter-Tom ist wütend auf den traurigen kleinen Tom, denn der bringt ja das ganze System in Gefahr.
Ab dann gab es den kleinen traurigen und hilflosen Tom, der nun allein im Unterbewusstsein sitzt und den Retter, der einschreitet, sobald die Gefahr des Kontaktverlustes auftaucht.
Was passiert heute, wenn seine eigene Tochter weint?
Da ihm seine Tochter so nah ist, fühlt er ihre Trauer intensiv mit und das berührt die Trauer von dem kleinen Tom, der alleine im Unterbewusstsein sitzt. Als wenn das nicht schon aufwühlend genug wäre, aktivieren diese Gefühle zusätzlich sofort seine alte Angst vor Kontaktverlust. Der kleine Tom im Keller weiß ja gar nicht, dass Tom mittlerweile ein großer Mann geworden ist, der nicht mehr bei seinem Vater wohnt. Beim Auftauchen der Angst vor Kontaktverlust wird der Retter-Tom aktiviert, um alle zu „beschützten“. Er schubst also „hilflos und traurig“ von sich weg, -heute leider auch seine eigene Tochter.
Er fühlt sich dabei heutezutage genauso wie er sich damals als kleiner Junge gefühlt hat.
Retter-Anteile kann man sich wie Programme vorstellen, die aus einem wichtigen Grund installiert wurden, aber leider nicht automatische Updates bekommen. Der Retter-Tom hat also das Bewusstsein eines zum Beispiel 5 Jährigen. Er übernimmt die Kontrolle bei Gefahr vor Kontaktverlust. Und damit verhält sich der gestandene Mann plötzlich wieder wie ein wütendes Kindergartenkind.
Menschen haben üblicherweise einige Retterprogramme. Ich vermute, dass jeder schon mal erwachsene Menschen erlebt hat, die sich in bestimmten Situationen nicht altersgemäß verhalten.
2. Wie kann man dieses dysfunktionale Verhaltensmuster verändern?
Tom kann den „traurigen Tom“ und das Retterprogramm bewusst integrieren.
Integration bedeutet hier, dass alle zusammen da sein können und keiner ausgeknockt oder in den Keller geschickt wird. -Weder der traurige Tom, noch der Retter-Tom noch der Erwachsene. Dann hat das Hauptbewusstsein auch Zugriff auf alle Fähigkeiten und Ressourcen (auch Wissen, Ideen, …), sodass der Erwachsene gezielt im Einklang mit seinen Werten handeln kann.
Was Tom bisher erlebt hat ist, dass entweder der große Tom sein Bewusstsein steuert ODER der Retter-Tom. Das tragische dabei ist, dass währenddessen der traurige kleine Tom immernoch alleine im Keller sitzt und sogar der Retter-Tom immer wieder überfordert wird, weil er sich plötzlich in Erwachsenen-Situationen wiederfindet.
Und an dieser Stelle kann das Hauptbewusstsein heilsam eingreifen.
Als erstes empfehle ich ein „Update“ für den Retter-Tom:
Dabei ist es wichtig, anzuerkennen, dass der Retter-Tom einen wichtigen Job hatte und seine Wut eine positive Absicht hatte. Er wollte etwas Gutes für das Gesamtsystem – nämlich die Bindung zum Vater erhalten.
Tom kann sich erlauben (ggf. mit Unterstützung), den Retter-Tom innerlich zu spüren, zu sehen und seine Realität anzuerkennen. Er kann ihm z.B. sagen: „Danke, dass du solange auf mich aufgepasst hast und diese wichtige Aufgabe übernommen hast. Du warst wichtig, um mich mit meinem Vater sicherer zu fühlen.“ Und wenn das bei dem Retter-Tom ankommt, kann der große Tom ihm zeigen, wie alt er als Erwachsener ist und dass er sich jetzt selber um den kleinen traurigen Tom kümmern kann, weil er als großer Tom keine Angst vor Trauer und Hilflosigkeit haben muss. Der Retter-Tom braucht das System nicht mehr vor dem traurigen kleinen Tom beschützen. Wenn Retter-Anteile verstehen, dass sie nicht mehr für diese Aufgabe gebraucht werden, verschmelzen sie mit dem Hauptbewusstein oder können eine neue, aktuell sinnvolle Aufgabe bekommen.
Wenn es keinen Retter-Tom zum wegschließen des kleinen Toms mehr gibt, ist es endlich Zeit, sich um den traurigen und hilflosen kleinen Tom zu kümmern. Dabei kann man sich einen solchen Anteil wie ein „normales“ Kind vorstellen.
Der große Tom kann die Emotionen des inneren kleinen Tom anerkennen und ihm Trost anbieten. Und so kann er auch insgesamt neue Wege finden, Trauer entspannt zuzulassen, ohne sie bekämpfen zu müssen.
(Manchmal ist es auch notwendig, die zugrunde liegende Trauma-Situation zu verändern.)
Grundsätzlich ist die Antwort aber technisch simple, auch wenn sie emotional oft erst erlernt werden muss:
Das Hauptbewusstsein BLEIBT, während die innere Anteile alle Gefühle erleben, die durch die Situation aktiviert wurden.
Das bedeutet nicht, dass der Erwachsene Mann unbedingt in Tränen ausbrechen muss. Aber wenn in ihm Angst, Trauer und Hilflosigkeit angerührt werden und er sich erlauben kann, diese innerlich zu fühlen, muss kein Retterprogramm sein Bewusstsein übernehmen.
… Und Tom schrieb nach ein paar Tagen, dass er gestern tatsächlich das erste Mal ruhig bleiben konnte, als seine Tochter emotional aufgewühlt war.
Fragen, die du dir zur Vertiefung stellen kannst:
- Gibt es Situationen, in denen ich nicht so handele, wie ich mir das vorgenommen habe? Oder anders handele, als ich es mir wünschen würde?
- Und was ist meine Prägung zu diesen Gefühlen oder Situationen?
- Was könnte meine Rettungs-Strategie sein?
- Und wovor bewahrt sie mich?
PS: Falls du gerne individuelle Impulse zu deinen Herausforderungen haben möchtest, bin ich gerne kostenfrei 15 Minuten für dich und dein Thema da.
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Danke für das Foto an Usman Yousaf von Unsplash
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